Berlin, August 2006
Miao Xiaochun-Neues im Alten entdecken
Siegfried Zielinski
Kritiker und Historiker der Kunst tun sich immer noch mächtig schwer angesichts simulierter Welten. Obgleich sie seit Jahrhunderten das Wechselverhältnis von Mathematik und Malerei oder Skulptur zu denken gelernt haben, sind ihnen die unverschämten Oberflächen, die aus Algorithmen generiert werden, höchst suspekt. Die etablierte Kunstgeschichte versucht, die neuen Erscheinungen in der internationalen Kunst mit einem Trick zu vereinnahmen. Sie behauptet einfach, dass die Künstler, die mit den avancierten technischen Produktionsmitteln arbeiten, nichts wirklich Neues schaffen würden, sondern dem bereits sattsam Bekannten lediglich neue Kleider verliehen. Bilder, in die man aus unterschiedlichen Perspektiven regelrecht eintauchen kann, virtuelle Realität – welch ein lächerliches Konzept! Das hat Michelangelo Buonarroti im Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle des Vatikans doch schon vor einem halben Jahrtausend gedacht und perfekt gemacht!
Dies ist vor allem ein Versuch der Selbstbehauptung. Kunstgeschichte und Kunstkritik gerieten spätestens in den 1990ern ins Hintertreffen angesichts einer experimentellen künstlerischen Praxis, die sie verschlafen hatten, und die völlig an ihnen vorbeilief. Gerade einmal hatten sie verkraftet, dass man die Fotografie als künstlerisches Medium zu respektieren hätte, und nun entstanden Bilder, die prinzipiell keinerlei Referenz in der Welt außerhalb benötigten, die nicht einmal irgend ein herkömmliches Material brauchten, um sich für andere veräußern zu können. Ein Monitor, eine flüchtige Projektion reichten. Mit uralten Krücken wie der Propagierung eines iconic turn oder einer Bildwissenschaft als neuer Meisterdisziplin, zuständig für alles Sichtbare in zwei, drei und vier Dimensionen, versuchten sie sich in die Zukunft zu retten.
Kunst, die mit fortgeschrittenen Medien arbeitet, hat auch einen diskursiven Charakter. Sie handelt immer auch vom Verständnis der Kunst und ihrer Wahrnehmungen. (Genauso wie jeder gute künstlerische Film immer auch eine Abhandlung über das Kino ist und seiner bisherigen Geschichte etwas hinzufügt.) Das gilt auch für die Arbeit von Miao Xiaochun, deshalb habe ich die extrem verkürzte Bemerkung zum Status der neuen Bilder und ihrer Rezeptionen vorangestellt. The Last Judgement of Cyberspace steht mitten in diesem Diskurs.
Schon im Titel legt der Künstler offen, dass seine artifizielle Welt in ihren zeitlichen Bezügen mindestens dreifach programmiert ist: Sie hat den offensichtlichen Bezug zur hohen Kunst der Spät-Renaissance, zu einem der herausragenden Freskengemälde der Kunstgeschichte überhaupt, Das Jüngste Gericht, an dem Michaelangelo bis zur völligen Verausgabung acht Jahre (1533-1541) arbeitete; zugleich operiert sie ganz in der Weltanschauung und der Technik der Gegenwart und verweist mit deutlichem Gestus in eine Zeit, die kommen mag.
Miao Xiaochuns Haltung gegenüber der Kunstgeschichte steht für die radikale Umkehrung der langweiligen These vom Alten, das immer schon im Neuen enthalten ist. Er entdeckt Neues im Alten. Die Vollendung der Malerei und Architektur der Renaissance, die Michelangelos späte Ergänzung zur Inszenierung des Gewölbes der Sixtina darstellt, wird in seiner Interpretation zugleich Ausgangspunkt einer Vorstellung vom Subjekt, wie sie sich erst im 17. Jahrhundert, mit dem Beginn der Moderne und der Hegemonie der Naturwissenschaften, zu entfalteten begann. Die vielen Figuren, welche die Szene bevölkern, sind nur auf den ersten Blick wohlgeformte Erscheinungen der Mannigfaltigkeit. Den Tag des Jüngsten Gerichts interpretiert Michelangelo als Tag der Rache und des Zorns. Dies irae, dies illa. Die Gestalten, welche die Szene bevölkern, sind Verzweifelte und Verworfene. Das unerbittliche Rad der göttlichen Macht (und ihrer Stellvertreter auf Erden) hat sie nicht etwa neue Souveräne werden lassen, sondern zu Sub-jekten im direkten Sinn des Wortes gemacht: zu Unterwürfigen. René Descartes formuliert gut hundert Jahre später sein Konzept von den Menschen als göttlichem Automaten. Sie funktionieren und leiden ungeheuer im Funktionieren, ein endloser Kreislauf von Vergehen/Sünde und Strafe. Nicht von ungefähr wird am Fuße dieses Bildes hinter dem Altar der vatikanischen Kapelle seit gut 130 Jahren der jeweils neue Papst gewählt.
Indem er sich selber exakt ausmaß und an die Stelle jeder Figur von Michelangelos Gemälde ein berechnetes Bild seiner Physiognomie – eine Art geometrisches Physiogramm - setzte, hat Miao Xiaochuns den Aspekt der Auflösung des Renaissance-Ideals radikal zugespitzt. In der Welt der Klone gibt es keine Originale mehr. Hinter den Masken der Gleichheit gibt es lediglich noch eine Ahnung von etwas, was mit sich selber identisch ist. Always the same, but never myself, wie man es in der Umkehrung eines Werbeslogans aus dem letzten fin des siècle ausdrücken könnte, den die Werbestrategen Calvin Kleins für dessen Existenzialismus aus der Flasche erfunden haben, ausgerechnet für Kate Moss, die Prinzessin der künstlichen Paradiese. Die Zeit, nach der das Subjekt erkannt hat, dass es nie ganzheitlich war und davon ausgeht, dass es nie mehr ganzheitlich sein wird. Originär ist im Letzten Gericht Miao Xiaochuns nur noch das mögliche Verhältnis der einzelnen geklonten Charaktere zueinander, das der Künstler in der Maschine beliebig verändern kann. Die Originalität ist in die Relationale gerutscht, sie ist flexibel geworden, schwarz-weiß, eine Abstraktion.
Dass sich in diesem Prozess das klassische Subjekt ganz aufzulösen beginnt, inszeniert Miao Xiaochun in einer Dimension, die er selber als diejenige der Zukunft bezeichnet. „Where will I go?“ ist der unverzichtbare Videobestandteil seines Last Judgement in Cyberspace., der das Werk auf den Punkt bringt. Die großformatigen Computerdrucke (C-prints) frieren, wie die Photographie, den Zeitfluss ein. Sie sind Momentaufnahmen aus einer komplexen Bewegung heraus. Was für den Computer eigentlich paradox ist, da er eine Zeitmaschine par excellence ist. Alles, was man auf einem Monitor sieht, geschieht, oszilliert, ist Bild in der Zeit. Wenn man ihn ausschaltet ist es weg. Im elektronischen und noch mehr im digitalen Video ist eine Kunst, die sich derart als Zeitkunst versteht, bei sich selber. Die Figuren werden auch in der Wahrnehmung zu Existenzen auf Zeit, erscheinen und verschwinden nach dem Belieben des Künstlers. Der ins Unendliche vergrößerte Raum zwischen Ihnen wird zur (maschinell erzeugten) Ewigkeit, Aion, wie die alten Griechen sagten, oder GOTT als der schnellste Weg von Null bis Unendlich, wie es der Pataphysiker Alfred Jarry ausdrückte.
Der Cyberspace ist keine objektive Realität. Er ist eine Erfahrung in der ersten Person, also völlig subjektiven Charakters. Um sich in ihm sinnlich bewegen zu können, benötigen wir Krücken, Prothesen. Genauso wie die christliche Religion die Himmelsleiter als Prothese benötigte, um den Aufstieg der menschlichen Seele vom Irdischen zum Himmlischen und den Abstieg der Engel als Botschafter Gottes ins Bild setzen zu können. Die schwebenden Figuren Miao Xiaochuns haben den Boden unter den Füßen längst verloren. Auch sie benutzen Krücken im stufenlosen Raum, die Leiter, das Zahnrad als Meisterartefakt der Mechanik, das Boot, die gebündelten Pfeile, die in der europäischen Mythologie sowohl für die Macht der Zerstörung als auch die Fähigkeit der Befruchtung stehen und in unzähligen allegorischen Darstellungen der Elektrizität wiederzufinden sind. Vor alllem in der Gründerzeit der neuen Medien am Ende des 19. Jahrhunderts.
Miao Xiaochuns eigenwillige Adaptation und Interpretation des Jüngsten Gerichts ist unverschämt. Ohne Scham führt er uns unsere eigene (Kunst)Geschichte vor und öffnet sie zugleich spielerisch in eine mögliche Zukunft hinein, die zugleich schon einmal ihre Vergangenheit gewesen sein könnte. Nur eine künstlerische Persönlichkeit, die aus einer tiefenzeitlichen Kultur wie derjenigen Chinas stammt, und die – trotz aller Bezüge zum Europäischen - in diesem Bewusstsein auch arbeitet, kann sich so etwas leisten.
Berlin, August 2006
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